Vertrag Italiens mit den Verbandsmächten

vom 26. April 1915

Der italienische Botschafter in London Marchese Imperiali hat auf Befehl seiner Regierung die Ehre, dem Minister der auswärtigen Angelegenheiten Sir E. Grey, dem französischen Botschaiter (in London) Herrn Cambon und dem russischen Botschafter (in London) Graf Benkendorff nachfolgende Denkschrift zu übermitteln:
§ 1. Zwischen den Generalstäben von Frankreich, Großbritannien, Rußland und Italien soll unverzüglich eine Militärkonvention geschlossen werden. Diese Konvention bestimmt das Mindestmaß der Streitkräfte, welche Rußland gegen Osterreich-Ungarn in dem Fall in Bewegung setzen soll, wenn dieses Land alle seine Kräfte gegen ltalien richten sollte, sofern Rußland sich entschließen würde, sich hauptsächlich auf Deutschland zu stürzen. Durch die genannte Militärkonvention sollen in gleicher Weise die einen Waffenstillstand betreffenden Fragen geregelt werden, soweit solche ihrem Wesen nach zu dem Verfügungsbereich des Armeeoberkommandos gehören.
§ 2. Italien verpflichtet sich seinerseits, mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln einheitlich mit Frankreich, Großbritannien und Rußland den Feldzug gegen alle mit ihnen kriegführenden Staaten zu führen.
§ 3. Die Seestreitkräfte Frankreichs und Großbritanniens sollen Italien ungeschwächten aktiven Beistand bis zur Vernichtung der österreichischen Flotte oder bis zum Augenblick des Friedensschlusses gewähren. Zwischen Frankreich, Großbritannien und Italien soll unverzüglich eine Marinekonvention abgeschlossen werden.
§ 4. Bei dem kommenden Friedensschluß soll Italien erhalten: Das Gebiet des Trentino, ganz südtirol bis zu seiner natürlichen geographischen Grenze, als welche der Brenner anzusehen ist; Stadt und Gebiet von Triest, die Grafschaften Görz und Gradiska; ganz Istrien bis zum Quarnero mit Einschluß Voloskas und den istrischen lnseln Cherso und Lussin und gleichfalls den kleineren Inseln Plawnica, Unie, Canidole, Palazzoli sowie den lnseln St. Peter von Nembi, Asinello und Gruica nebst den benachbarten Inseln.
Anmerkung 1. In Ergänzung des § 4: Die Grenze soll durch folgende Punkte gezogen werden: Von dem Gipfel des Umbrail in nördlicher Richtung bis zum Stilfser Joch und weiter auf der Wasserscheide der Rätischen Alpen bis zu den Quellen der Flüsse Etsch und Eisack, danach über die Reschen-Scheideck, den Brenner und die Ötztaler und Zillertaler Alpen. Danach soll die Grenzlinie sich nach Süden wenden, das Gebirge von Toblach schneiden und bis zur jetzigen Grenze von Krain gehen, die sich auf den Alpen hinzieht; dieser folgend, wird sie bis zu den Bergen von Tarvis gehen, dann auf der Wasserscheide der Julischen Alpen über die Höhe Predel, den Berg Mangart, die Berggruppe Triglav und die Pässe von Podbrda, Podlaneskan und Idria verlaufen. Von dort setzt sich die Grenze in südöstlicher Richtung zum Schneeberg fort, so daß das Becken des Flusses Save mit seinen Quellflüssen nicht in das italienische Gebiet fällt. Vom Schneeberg zieht sich die Grenzlinie zur Küste hin, indem sie Castua, Matuglie und Voloska in die italienischen Besitzungen einschließt.
§ 5. In gleicher Weise erhält Italien die Provinz Dalmatien in ihrer jetzigen Gestalt mit Einschluß von Lissarik und Trebinje im Norden und allen Besitzungen bis zu einer von der Küste bei Kap Planka nach Osten auf der Wasserscheide gezogenen Linie im Süden, so daß auf diese Weise alle an dem Laut der bei Sebenico mündenden Flüsse wie Cikola, Kerka und Budisnica mit allen ihren Quellflüssen gelegenen Täler in den italienischen Besitz fallen. ln gleicher Weise werden Italien alle nördlich und westlich der dalmatischen Küste gelegenen Inseln zugesprochen, beginnend mit den Inseln Premuda, selve, Ulbo, Skerda, Maon, Pago und Puntadura usw., im Norden bis Melada, im Süden unter Hinzufügung der Inseln St. Andrea, Busi, Lissa, Lesina, Torcola, Curzola, Cazza und Lagosta mit allen zu ihnen gehörigen Klippen und Eilanden, sowie Pelagosa, aber ohne die Inseln Groß- und Klein-Zirona, Bun, Solta und Brazza.
Der Neutralisierung unterliegen: 1. Die ganze Küste von Kap Planka im Norden bis zum Südende der Halbinsel Sabsbioncello und im Süden mit Einschluß der ganzen genannten Halbinsel in das neutralisierte Gebiet; 2. ein Teil der Küste, beginnend von einer zehn Werst südlich des Kap Alt-Ragusa gelegenen Stelle bis zum Flusse Wojusa im Süden, so daß in die Grenzen der neutralisierten Zone die ganze Bucht von Cattaro mit ihren Häfen Antivari, Dulcigno, san Giovanni di Medua und Durazzo fallen, wobei die aus der von den vertragschließenden Parteien im April und Mai 1909 aufgestellten Deklaration hervorgehenden Rechte Montenegros nicht beeinträchtigt werden dürfen. ln Anbetracht jedoch, daß diese Rechte nur für die gegenwärtigen Besitzungen Montenegros anerkannt wurden, dürfen sie in der Folge nicht auf diejenigen Länder und Häfen ausgedehnt werden, welche in Zukunft Montenegro zugeteilt werden können. Auf diese Weise unterliegt auch in Zukunft der Neutralisierung kein Teil der jetzt Montenegro gehörenden Küste. ln Kraft bleiben die Beschränkungen betreffend den Hafen Antivari, mit welchen im Jahre 1909 Montenegro selbst sich einverstanden erklärt hat; 3. endlich die lnseln, welche Italien nicht zugewiesen werden.
Anmerkung 2. Die folgenden Länder am Adriatischen Meer werden von den Mächten des Vierverbandes den Gebieten Kroatiens, Serbiens und Montenegros zugeteilt: lm Norden des Adriatischen Meeres die ganze Küste, beginnend von der Bucht Volosca an der Grenze lstriens bis zur Nordgrenze Dalmatiens mit Einschluß der ganzen jetzt zu Ungarn gehörigen Küste, der ganzen Küste Kroatiens, des Hafens Fiume und der kleinen Häfen Novi und Carlopago sowie auch der lnseln Velia, Pervicchio, Gregorio, Goli und Arbe; im Süden des Adriatischen Meeres, wo Serbien und Montenegro interessiert sind, die ganze Küste von Kap Planka bis zum Flusse Drina mit den wichtigsten Häfen Spalato, Ragusa, Cattaro, Antivari, Dulcigno und San Giovanni di Medua und mit den lnseln Groß-Zirona, Bua Solta, Brazza, Jaklian und Calamotta.
Der Hafen Durazzo kann einem unabhängigen mohammedanischen Staate Albanien zugeteilt werden.
§ 6. ltalien erhält zu vollem Eigentum Valona, die Insel Sasseno und ein genügend umfangreiches Gebiet, um es in militärischer Hinsicht zu sichern, annähernd von dem Flusse Wojusa im Norden und Osten bis zur Grenze des Bezirks Chimara im Süden.
§ 7. Wenn Italien das Trentirio und Istrien gemäß § 4, Dalmatien und die lnseln des Adriatischen Meeres gemäß §5 sowie den Busen von Valona erhält, soll es im Falle der Bildung eines kleinen autonomen neutralisierten Staates in Albanien sich nicht dem möglichen Wunsche Frankreichs, Großbritanniens und Rußlands nach Aufteilung der nördlichen und südlichen Grenzstriche Albaniens zwischen Montenegro, Serbien und Griechenland widersetzen. Der südliche Küstenstrich von der Grenze des italienischen Gebiets Valona bis Kap Stiloa unterliegt der Neutralisierung.
Italien wird das Recht in Aussicht gestellt, die äußeren Beziehungen AIbaniens zu leiten; in jedem Falle ist Italien verpflichtet, sich mit der Überlassung eines genügend umfangreichen Gebietes an AIbanien einverstanden zu erklären, so daß westlich von dem Ochridassee letzteres gemeinsame Grenzen mit Griechenland und Serbien erhält.
§ 8. Italien erhält zu vollem Eigentum alle von ihm jetzt besetzten Inseln des Dodekanes.
§ 9. Frankreich, Großbritannien und Rußland erkennen grundsätzlich das interesse Italiens an der Erhaltung des politischen Gleichgewichts im Mittelmeer an, sowie das Recht, bei einer Teilung der Türkei einen gleichen Anteil wie die genannten drei Staaten an dem Bassin des Mittelmeeres zu erhalten, und zwar in dem Teil, welcher an die Provinz Adalia anstößt, wo Italien schon besondere Rechte erworben hat und die in der italienisch-britischen Konvention erwähnten Interessen besitzt. Die danach in den Besitz Italiens fallende Zone wird entsprechend den Lebensinteressen Frankreichs und Großbritanniens seinerzeit genauer abgegrenzt werden. Auf gleiche Weise sollen die lnteressen Italiens auch in dem Falle Beachtung finden, wenn die territoriale Unversehrtheit der asiatischen Türkei durch die Mächte auch für einen weiteren Zeitabsclinitt aufrechterhalten werden, und wenn nur eine Abgrenzung Zwischen den Einfußsphären stattfinden sollte. Wenn in diesem Falle Frankreich, Großbritannien und RußIand während des gegenwärtigen Krieges einige Gebiete der asiatischen Türkei besetzen sollten, so soll das ganze an Italien grenzende und oben genauer bezeichnete Gebiet an Italien überlassen werden, welches auch das Recht zu seiner Besetzung erhält.
§ 10. In Lybien werden Italien alle diejenigen Rechte und Ansprüche zuerkannt, welche auf Grund des Vertrages von Lausanne bis jetzt noch dem Sultan Zustanden.
§ 11. Italien erhält denjenigen Teil der Kriegskontribution, welcher dem Maß seiner Opfer und Anstrengungen entspricht.
§ 12. Italien tritt der von Frankreich, England und RußIand aufgestellten Deklaration bei, nach welcher Arabien und die heiligen Stätten der Mohammedaner einer unabhängigen mohammedanischen Macht überlassen sind.
§ 13. Im Falle der Erweiterung des französischen und englischen Kolonialbesitzes in Afrika auf Kosten Deutschlands erkennen Frankreich und Großbritannien grundsätzlich das Recht Italiens an, für sich gewisse Kompensationen im Sinne einer Erweiterung seiner Besitzungen in Erythräa, im Somaliland, in Lybien und in den an Kolonien Frankreichs und Englands grenzenden Kolonialgebieten zu verlangen.
§ 14. England verpflichtet sich, die unverzügliche Realisierung einer Anleihe in Hohe von nicht weniger als fünfzig Millionen Pfund Sterling zu günstigen Bedingungen auf dem Londoner Markte zu erleichtern.
§ 15. Frankreich, England und Rußland nehmen die Verpflichtung auf sich, ltalien darin zu unterstützen, daß Vertreter des Heiligen Stuhles zu irgendwelchen diplomatischen Schritten betreffend den Abschluß eines Friedens oder der Regulierung von Fragen, die mit dem gegenwärtigen Krieg zusammenhängen, nicht zugelassen werden sollen.
§ 16. Der vorliegende Vertrag soll geheimgehalten werden. Was den Anschluß Italiens an die Deklaration vom 5. September 1914 betrifft, so wird diese Deklaration der Öffentlichkeit übergeben werden, sobald der Krieg durch Italien oder an Italien erklärt worden ist.
Nach Kenntnisnahme der vorliegenden Denkschrift sind die entsprechend hierzu bevollmächtigten Vertreter Frankreichs, Großbritanniens und Rußlands mit dem gleicherweise von seiner Regierung für diese Angelegenheit bevollmächtigten Vertreter Italiens dahin übereingekommen: Frankreich, Großbritannien und Rußland erklären ihr volles Einverständnis mit der vorliegenden Denkschrift, die ihnen durch die italienische Regierung vorgelegt ist. In bezug auf die §§ 1, 2 und 3, betreffend das Einvernehmen über die Heeres- und Flottenunternehmungen aller vier Mächte, erklärt Italien, daß es in möglichst naher Zukunft und in jedem Falle nicht später als einen Monat nach Unterzeichnung des vorliegenden Dokuments durch die vertragschließenden Teile aktiv auftreten werde.
Das Vorliegende haben in London in vier Exemplaren am 26. April 1915 unterzeichnet und mit ihren Siegeln beglaubigt:
Sir Edward Grey.Cambon. Marchese Imperiali.
Graf Benckendorff.
(lswestija vom 28. November 19l7).